ABENTEUER VOR DER HAUSTĂR: LOST Places IN BRAND/OBERPFALZ, HINTER EINEM ROSTIGEN FABRIKTOR.

DrĂŒben in Bayreuth ist im Lost Places die Hölle los. Die Kanzlerin befindet sich im Anmarsch auf den GrĂŒnen HĂŒgel. Eröffnung der Wagner-Festspiele. Man gibt Lohengrin, die Erlöseroper, mit viel Prominenz, rotem Teppich und allem Brimborium.
TEXT // MONIKA SCHULZ
FOTOS // JĂRG SCHLEICHER
Wir sind in Brand / Oberpfalz, 30 gepflegte Motorradminuten östlich von Bayreuth, wo man nichts, und zwar gar nichts, vom groĂen Bahnhof jenseits der Fichtelnaab mitkriegt. AuĂer im Radio, das aus einem lĂ€ssig vorm âWaffenschmiedâ geparkten Baufahrzeug krĂ€chzt.
Antenne Bayern zerpflĂŒckt gerade Merkels Garderobe, Bayernchef Söder wird von Studenten ausgebuht, Oberstreber Spahn und Unterhaltungsbombe Gottschalk baden im Applaus der Schaulustigen vor dem Königsportal.


WIE SOLL MAN DAS JETZT ERKLĂREN: DIE MAGIE DES MORBIDEN, DIE FASZINATION DES VERFALLS …?
VILLA MATTONI
1873. Im engen Tal der Eger vor Karlsbad kauft Heinrich Mattoni nicht nur eine Mineralquelle, sondern das Dorf GieĂhĂŒbl, tschechisch Kyselka, gleich dazu. Er lĂ€sst Villen errichten, KurhĂ€user, eine Bahnlinie. GieĂhĂŒbl kommt zu Weltruhm und das gute Mattoni bis heute aus Kyselka. Nur die Neorenaissance geht immer weiter den Bach runter.

âBei uns isâ ja der Max Reger geborenâ, die Waffenschmied-Wirtin zĂŒckt die ZimmerschlĂŒssel, âaber fĂŒr den interessiert sich keiner so recht. Immer nur Wagner. Und ihr, wie seidâs ihr auf unsern Ort kommen? Wegen der alten Papierfabrik. Aha.

Gibtâs dort was Besonders?â Wie soll man das jetzt erklĂ€ren: die Magie des Morbiden, die Faszination des Verfalls, die Schönheit zersplitterter Fensterscheiben…? Die Dame kommt uns gottlob zuvor. âFreilich, schön haben wirâs hier schon. Aber ruhig istâs halt.â
DESHALB SIND WIR HIER
Um sechs Uhr in der FrĂŒh lĂ€uten die Kirchenglocken. Angelus Domini. Volles Programm. So viel zur Ruhe in Brand. DĂŒnner Nebel ĂŒber den Wiesen, MorgenkĂŒhle ĂŒber dem Bach. Unterm pastellfarbenen Himmel zieht ein tschechischer Kleinlaster einsam seine Spur Richtung Neusorg.
Wir starten die Maschinen. Noch zwei, drei Minuten, dann hat die Sonne den Anstieg ĂŒber die GroĂe Kösseine geschafft. âVon dort oben sieht man die ganze Weltâ, hat gestern Abend ein tapferer Zecher versprochen. Kösseine â nie gehört? Wie auch: Weder das Fichtelgebirge noch die Oberpfalz zĂ€hlen zu den Trommelwirbelregionen.
Deshalb sind wir hier. GewissermaĂen als Entdecker. Auf Pionierfahrt im toten Winkel des touristischen Mainstream. In dieser ungeschminkten Gegend, die manchmal sogar von ihren LandesvĂ€tern vergessen wird.
Keine Industrieschlote, keine Aldi-Lidl-Baumarkt-VorstĂ€dte, keine breiten, fĂŒr Just-in-time-GeschĂ€fte geschlagenen Schneisen. Nur Gegend. Und eine Landschaft, die dich von allen Seiten umarmt â mit ihren klaren HĂŒgelzĂŒgen, ihrer Weite, ihren WĂ€ldern.
Kleine StraĂen. Kaum Verkehr. Kurven. Kurven. Kurven. Rauf, rechts, runter, links, Haarnadel, Achtung! Gas raus, Kuppe. Fliegende Fichten, in Wellen anrollende Wiesen und Felder. Alle zehn Kilometer ein Auto, alle paar Minuten ein See. Dazwischen Orte, deren Namen tausenderlei Phantasien ankurbeln: Pechbrunn, Tröstau, Friedenfels.

Wurmloh, Nagel, Scheibe, Neuwelt. Wobei gefĂŒhlt jedes achte Dorf Schwarzenbach heiĂt und jedes vierte irgendwas mit -reuth. Reuth wie Rodung, wissen die Gelehrten. Tirschenreuth. Neualbenreuth. Ădwalpersreuth. Hin und wieder hinten auch ein -loh oder -loe, klares Indiz fĂŒr Brandrodung.
Jahrhundertelang lebten die OberpfĂ€lzer und -franken vom Erzbergbau. Eisen vor allem. Aber auch Zinn, Kupfer, Silber und Gold. Es wurde gegraben, geköhlert, verhĂŒttet und abgeholzt, abgeholzt, abgeholzt. Die schnelle Fichte sollte es wieder richten. Nur: So schnell wuchs sie doch nicht.
In der FrĂŒhen Neuzeit warâs dann â auch deshalb â mit der Pracht und dem Wohlstand vorbei. Die letzte Grube, Leonie, hat trotzdem bis 1987 durchgehalten. Sie stand unten in Auerbach und macht jetzt auf Naturschutzgebiet.
BACK TO 1961
Wondreb-Talsperre. Flutung. Jesenice versinkt. Ein ganzes Dorf. Einfach weg. Bis auf die BrĂŒcke der alten StraĂe nach Cheb. Zehn Kilometer weiter sĂŒdlich: Neualbenreuth. Vertriebene EgerlĂ€nder bauten einen Grenzlandturm. 20 Meter hoch. Aus Seh(n)sucht nach der alten Heimat hinter dem Eisernen Vorhang.

BĂHMISCHE DĂRFER
NeuhĂ€usl/Nove Domky. Eins von 2500 Dörfern, die nach der Ausweisung von drei Millionen Sudetendeutschen aus der Ex-Tschechei zerstört wurden oder verfielen. Von 89 Anwesen (1945) stehen noch zwei Handvoll â und die alte Kirche noch gerade so. Info-Material zu den verschwundenen Orten sammelt zanikleobce.cz.

MEHR ALS EINMAL MUSSTE SICH NORD-OSTBAYERN NEU ERFINDEN
Wie versprochen haben wir von der Kösseine die Welt gesehen, aus 939 Metern Höhe: den Bayerischen Wald, Böhmer- und ThĂŒringer Wald. Das Erzgebirge, die Rhön. Und natĂŒrlich den Hochadel des Fichtelgebirges: Schneeberg und Ochsenkopf. Zwei echte Tausender. 1051 und 1024 Meter hoch. RĂŒckmarsch. Helm auf … âWo bleibt ihr? Verfahren? Verloren gegangen? Panne? Verpennt?â Jörg â auweia. Den hatten wir vor lauter Weitblick kaum noch auf dem Schirm.
Halb neun. Mist. Verabredet waren wir um acht. Alte Papierfabrik. Er wollte uns die Location unbedingt am frĂŒhen Morgen zeigen, sagte, Mittagslicht schlage ihm aufs GemĂŒt und jede Mystik tot. Auf nach Brand. Talabfahrt. Ein Rausch in GrĂŒn, mit beschleunigend schlechtem Gewissen. Julian mit der MT-07 auf Pole. Er hebt den Daumen, gleich sind wir dort.
Holpern ĂŒber einen Feldweg runter zur Fichtelnaab. Wie es sich gehört, steht die ehemalige Goetz Pappenfabrik direkt am Bach. Wasser war wichtig fĂŒr die Bierdeckel-Produktion. Und Bierdeckelwaren wichtig fĂŒr Bayern. 1897 pappte man hier unten die ersten zusammen, 2009 die letzten. In Jubeljahren verschickte Goetz 500 Millionen Filzl: Heineken, Coca-Cola, Guinness â sie standen auf Bierdeckeln aus Brand.
Nur brauchte die Welt Mitte der 90er nicht mehr so viele davon. Auch Bayern nicht. Aus einer Unmenge heimischer Brauereien, es geht die Sage von 30 000, waren rund 700 geworden. Goetz hingauf halb acht. 52 ArbeitsplĂ€tze bedroht. 2004 grĂ€tschte ein Hamburger Investor ein. Goetz Pappe hieĂ nun Goetz International Papers & Printing. Geholfen hatâs wenig. Die Fabrik war ein Lost Places.
Wie so viele Betriebe im ehemaligen Zonenrandgebiet: Papier, Textil, Glas, Porzellan â am Ende hat keiner vom Fall des Eisernen Vorhangs profitiert. Die kleinen Firmen verschwanden zĂŒgig, die gröĂeren gingen in nĂ€chstgröĂeren auf. Und von den ganz GroĂen haben es lĂ€ngst nicht alle gepackt. Winterling 1999 insolvent. Hutschenreuther 2000. Arzberg mit Schirnding, Kronesterund Seltmann VohenstrauĂ 2013.

WAS KOMMT NACH DEM ENDE?
âDie Stille. Die Ăsthetik des Untergangs. Die Weite des unbelebten Raums. Und natĂŒrlich die Geschichte.â Jörg liebt sie, diese verlorenen Orte. Nicht nur als Fotograf. FĂŒr ihn haben Lost Places etwas zutiefst Menschliches.
Hier eine halb ausgetrunkene Flasche, dort eine kurze Notiz, ein Arbeitskittel ordentlich mit dem BĂŒgel ans Regal gehĂ€ngt, âdas ist alles gelebtes Lebenâ. Die FlĂŒchtigkeit des Augenblicks, das VergĂ€ngliche, Vergebliche â vielleicht wird es einem nirgendwo stĂ€rker bewusst.
âSchaut euch diese Halle an! 110 Meter lang. Hier stand die Langsiebanlage. Riesig. Eine Monstermaschine. Stellt Euch diesen LĂ€rm vor, das Gewummer und Gestampfe, diese ganze Hektik, die zittern den Fensterscheiben. Vorbei. Ende. Aus. Das ist doch Wahnsinn. Irgendwie. Oder?â Ist es. D’accord, Jörg.
Der Urban Explorer aus Hof kennt die alte Fabrikbis in den letzten Winkel. Hier fotografiert er Mode, hier stellt er demnĂ€chst seine Urbex-Bilder aus, hier arbeitet der Oberfranke aktiv am Strukturwandelin der nördlichen Oberpfalz mit. Lost Places zu Pflugscharen â oder so Ă€hnlich. Denn das Goetz-Areal mit 9000 qm ĂŒberbauter FlĂ€che soll reanimiert werden. Als Event- und Coworking-Fabrik. Als Kunst-, Kultur- und Oldtimer-Insel. Als Thinktank an der Fichtelnaab. Warum nicht?


PORZELLAN
Im Fichtelgebirge fand man, nachdem es kein Erz mehr hergab, Kaolin. Den Stoff, den man zur Porzellanherstellung braucht. Womit ein neuer Industriezweig geboren war. StĂ€dte wie Hohenberg, Selb, Tirschenreuth, Arzberg standen bald als Synonym fĂŒr weltbekannte Manufakturen.
DAS ALSO SIND UNSERE MOTORRĂDER. WAREN DIE IMMER SO BUNT?
ZIEMLICH WEIT »OFF THE MAP« â WIE DER PROFI SAGT
Grillengezirpe, Insektengeschwirre, das Rauschen ganzer Armeen mikroskopischer Lebewesen. Auf und abschwellend, auf und ab. Selten, vielleicht nie so deutlich wahrgenommen. Aus einem Lost Place aufzutauchen, ist die praktikabelste Form der Reinkarnation.
Wir erleben sie jetzt zum dritten Mal, treten aus einer stillgelegten Porzellanfabrik. Die Erde da drauĂen kocht. Alles dreht sich und singt und tanzt, und gleich wird diese Galaxie vorlauter Energie bersten. Dabei sind wir nĂŒchtern betrachtet am A. d. W. â oder ziemlich weit âoff the mapâ, wie der Profi sagt.
Das also sind unsere MotorrÀder in den Lost Places. Waren die immer so bunt? Und haben die uns hierher gebracht? Nach dem Vakuum hinter dem alten GemÀuer wirken die beiden Yamahas wie gerade gelandet. Ufos aus einem Science-Fiction-Film.

Es ist ein langes Ankommen aus dem Monochrom halbdunkler Hallen und GĂ€nge. Es dauert, bis man wieder bei sich ist. Bis man das Kafkaeske der verwaisten WerkbĂ€nke und verlassenen BĂŒros mit ihren eindringlichen Zeugnissen einer einst stolzen Manufaktur einsortiert hat.
FĂŒr die Verarbeitung empfehlen wir, auf Durchzug zu stellen. Gas geben. Die Kurve kratzen. Oder drei, vier, fĂŒnfzehn am StĂŒck. Den Horizont in alle Richtungen drehen, alle Schwere abschĂŒtteln. Nichts ist fĂŒr immer.
URBEX-KODEX
Hausfriedensbruch, auf militÀrischem GelÀnde sogar Landfriedensbruch: In Lost Places bewegt man sich oft am Rande der LegalitÀt. Obendrein gilt unter Urban Explorern (Stadterkundern) der Kodex: nichts mitgehen lassen, nichts verÀndern. Staunen, Bilder machen. Basta!
AUFKLĂRUNG
GroĂer Kornberg â nordöstlicher AuĂenposten des Fichtelgebirges:827 m ĂŒ. NN, zehn Kilometer vor der tschechischen Grenze.

Und dorthin zielten wĂ€hrend des Kalten Krieges die AbhörmaĂnahmen der Bundeswehr im gut 60 Meter hohen AufklĂ€rungsturm.


BOHEMIAN RHAPSODY
Die Sonne steht schon schrĂ€g, als wir ĂŒber eine HochflĂ€che zum Grenzlandturm in Neualbenreuth rollen. Ein Werk der 1960er-Jahre, das dem Begriff Lost Places eine andere Dimension verleiht.
Im Stil jener tschechischen WachtĂŒrme, die wĂ€hrend des Kalten Krieges zur Beobachtung des Grenzstreifens dienten, zogen vertriebene Sudetendeutsche auf bayerischer Seite einen Aussichtsturm hoch. Nicht wirklich aus Protest, sondern vor allem, um einen tiefen Blick in die verlorene Heimat hinter dem Eisernen Vorhang zu ergattern.
Böhmen. Das Egerland. Voraus schimmert die aufgestaute Wondreb, schrĂ€g dahinter liegt Cheb, deutsch: Eger. Eine der Keimzellen der Sudetenkrise, die von Hitler â wem sonst? â angeheizt worden war und die tschechoslowakische Regierung 1938 zwang, das sogenannte Sudetenland ans Deutsche Reich abzutreten. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs konnte noch um ein paar Monate hinausgezögert werden.
âUnd jetztâ, Julian kramt sein Smartphone hervor, startet die Navi-App, âMĂŒnchsfeld, Frauenthal, MĂŒhlhĂ€usel?â Nicht auf der Karte, off the map. Ihr Ziel liegt auf unerreichbarem Gebiet. âDas sind keine verlorenen, das sind verschwundene Orte.â Tief im Wald, drĂŒben im Bezirk Tachov.
Es gib Hunderte, Tausende davon. Alle nach Kriegsende einplaniert oder geschleift oder verfallen. Das Deutsche musste raus aus Böhmen, MÀhren, aus Tschechisch-Schlesien. Es ist viel zu spÀt, als wir Richtung NeuhÀusl aufbrechen.
NeuhĂ€usl alias Nove Domky. Eins jener alten Dörfer, unten bei Rozvadov (RoĂhaupt). Hatte mal 750 Einwohner, heute sind es noch 14. Oder zehn? Jedenfalls ist NeuhĂ€usl nicht komplett verschwunden. Ein paar HĂ€userblieben erhalten. Und die alte Pfarrkirche? Vor Jahren bei der Durchreise eher zufĂ€llig entdeckt â vielleicht steht sie ja noch.
Vielleicht schaffen wir es noch. Vielleicht. Vielleicht. Vielleicht. Schon geht es wieder los: Abenteuerlust, PioniergefĂŒhle. Es gibt einen einfachen Weg, auĂen rum ĂŒber Waidhaus. Aber NeuhĂ€usl ĂŒber Waidhaus, ist wie Tequila ohne Salz und Zitrone. Wir nehmen die Luftlinie, stauben ĂŒber Schotter, zuckeln durch winzige Weiler, krachen in Schlaglöcher, verfahren uns im finsteren, böhmischen Wald.
Letzte Sonnenstrahlenblitzen an dunklen FichtenstĂ€mmen vorbei, als NeuhĂ€usl in Sicht kommt. Die âKirche der Heimsuchung unserer lieben Jungfrau Mariaâ bietet dem Verfall tapfer die Stirn. Und dahinter, auf dem alten deutschen Friedhof, flackern rote Grablichtlein. Von wegen vergessen.


OFF THE MAP
FĂŒnf GrĂŒnde fĂŒr einen Lost-Places-Trip:
Erstens liegen vergessene Orte oft tief im Abseits.
Was zweitens die Entdeckung kleinster StrĂ€Ăchen forciert.
Wo drittens keine VierrÀder,
viertens keine Leitplanken und
fĂŒnftens keine Ampeln und so Zeug den FahrspaĂ verderben.
